Versöhnt leben mit der eigenen Vergangenheit //
Über Fehler und verpasste Chancen
Draußen regnet es. Schon seit Stunden kann ich hören, wie die Regentropfen auf die Dachfenster unserer Wohnung prasseln, während ich zu Hause im Trockenen sitze und mich frage, ob ich eigentlich irgendwo falsch abgebogen bin. Nicht in unserer Wohnung natürlich, sondern im Leben falsch abgebogen. Hab ich irgendwas verpasst?
Kennst du das oder bin ich die einzige, die sich manchmal fragt, ob sie eigentlich in ihrem bisherigen Leben etwas Entscheidendes falsch gemacht, Chancen verpasst und versagt hat?
Hätte ich nicht etwas anderes studieren sollen? Hätte ich etwas anderes arbeiten sollen? Hätte ich das Studium mehr genießen sollen? Hätte ich mehr aus meiner Jugend herausholen sollen? Hätte ich mehr oder etwas anderes aus mir herausholen sollen? Und sollte ich mit 26 schon an diesem Punkt stehen, wo man sich solche Fragen stellt?
Mit den meisten großen Entscheidungen, die ich bisher in meinem Leben getroffen habe, bin ich wirklich zufrieden: Ich würde zum Beispiel wieder heiraten und ich würde auch wieder denselben Mann heiraten. Puuh. Das ist schon mal gut.
Aber dann gibt es so viele andere kleinere Dinge, bei denen ich mir nicht so sicher bin. Verhaltensweisen, Einstellungen, Entscheidungen von früher … Warum hab ich das gesagt und jenes getan, warum hatte ich davor Angst und hab mich jenes nicht getraut, wieso hab ich mich darauf eingelassen und habe jenes aufgegeben … ? Ich möchte an dieser Stelle nicht ins Detail gehen, ehrlich gesagt. Aber ich habe bemerkt, dass das Dinge aus meiner Vergangenheit sind, die ich bedauere, bereue und betrauere. Und ich denke dabei nicht nur an mich, sondern auch an andere Menschen, deren Lebensgeschichten ich kenne ... Vielleicht kennst du das auch.
Ich hab viel über das Warum nachgedacht und ich glaube, die Gründe für diese „Fehler“ in unserem Leben sind oft entweder mangelnde Lebenserfahrung, mangelndes Selbstvertrauen, Angst vor Veränderung und vor dem Ungewissen, mangelnde Alternativen oder eben eine Mischung aus diesen.
Fehler. Ja, das sind irgendwie Fehler aus unserer Vergangenheit. An sich ist nichts Schlimmes dabei, Fehler zu machen, schließlich tun wir alle das und keiner kommt um sie herum. Aber sie können trotzdem ein bedrückendes, dumpfes Gefühl in uns hinterlassen.
Und dann? Was tut man dann? Hmm … Bei Menschen, denen man Unrecht getan hat, kann man sich entschuldigen und um Verzeihung bitten. Aber was tun mit den Fehlern, die nichts mit anderen Menschen zu tun haben? Wo man sein Versagen oder Versäumnis einzig und allein sich selbst zuzuschreiben hat, höchstens noch den Umständen - und das ist das Stichwort: Umstände. Nein, ich bin kein Fan davon, die Opferrolle einzunehmen und alle Verantwortung von sich wegzuschieben. In meinen Augen ist jeder Mensch erst einmal selbst verantwortlich für alles, was ihn betrifft. Und trotzdem dürfen wir doch auch nicht so hart zu uns sein, oder?!? Die Welt ist es. Müssen wir es dann auch noch sein – uns selbst gegenüber? Ich finde nicht. Ich will gnädig sein mit mir, so wie ich das auch mit anderen sein will. Ja, da bin ich ganz christlich, aber ich mein’s ernst. Wir brauchen mehr Gnade. Das ist ein seltsames Wort, aber Gnade ist einfach klasse. Wir werden so sehr unter Druck gesetzt in einer Welt, in der nun mal hauptsächlich Leistung zählt. Wo kommen wir hin, wenn wir nur noch auf solche fordernden, verurteilenden und vorwurfsvollen Parolen hören, nur um dann auch noch selbst in diesen Chor miteinzustimmen?
Das Leben ist nicht fair. Menschen wachsen unter ganz unterschiedlichen Bedingungen auf und Stichworte wie z.B. gerechte Bildungschancen sind auch in Deutschland lediglich Wunschträume – das ist nicht die Realität, das sind Wünsche. Und deshalb glaube ich, dass manche Versäumnisse, Fehler und verpasste Chancen zwar unserer Person zugeschrieben werden, aber nicht allein unsere Schuld sind. Manchmal konnten wir auch einfach nicht anders handeln und uns anders verhalten als so, wie wir es getan haben. Manches davon haben wir nach damaligem bestem Wissen und Gewissen getan oder einfach mit der übrigen Kraft, die wir noch hatten. Hätten wir mehr davon gehabt, hätten wir mehr Gerechtigkeit erlebt, hätten wir andere Entscheidungen getroffen. Aber so war es nicht. Und deshalb müssen wir vielleicht auch viel gnädiger mit uns sein, wenn es darum geht, uns mit unserer Vergangenheit zu versöhnen. Nicht alles war perfekt – im Gegenteil, im Leben vieler Menschen ist bei weitem nicht alles perfekt gewesen, da kann nicht einmal annähernd von perfekt die Rede sein.
Aber genau deshalb glaube ich, dass wir eine Versöhnung mit uns und unserer Vergangenheit brauchen. Ich glaube, wir müssen uns immer wieder mit uns selbst versöhnen: mit unseren Fehlern und Macken und mit den Dingen, die wir verpasst, verhauen, versäumt und vermasselt haben. Das tut weh. Aber es ist okay. Versagen ist menschlich und das ist okay. Das musste ich erst lernen und obwohl ich das inzwischen weiß, muss ich mich immer wieder daran erinnern.
Meine Frage ist auch, ob wir jemals unsere Fehler wirklich wiedergutmachen können. Ob wir das, was wir verpasst haben, nachholen können? Die Chancen, die wir uns entgehen haben lassen, noch ein zweites Mal bekommen? Ich glaube: Nein. Ich glaube nicht, dass wir das alles nachholen und wiedergutmachen können. Ich glaube viel mehr, dass wir akzeptieren müssen, dass es da Risse geben wird in unserem Leben – die tun weh, aber sie sind da. Dieser Schmerz ist echt und berechtigt und er kann nicht einfach so gelöscht werden. Den gilt es wahrzunehmen und damit umzugehen.
Das ein oder andere Versäumnis kann vielleicht noch nachgeholt und die ein oder andere Entscheidung korrigiert werden, das denke ich schon. Aber ich habe die leise Ahnung, dass irgendwann der Zug abgefahren ist … egal für was. Für alles ist es irgendwann einmal zu spät. Das ist eine ganz schön gewagte Aussage, wo wir uns heutzutage doch immer das Gegenteil einreden wollen: „Alles ist möglich. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Es ist nie zu spät. Sag niemals nie. Lebe deinen Traum. Hol dir das, was du willst.“ Oder so. Aber ich glaube, dass es Situationen gibt, für die es irgendwann tatsächlich zu spät ist.
FOMO ist dazu vermutlich auch ein passendes Stichwort: Fear of missing out. Die Angst, etwas zu verpassen. Ja, die kenne ich. Oder in diesem Fall, die Angst, etwas verpasst zu haben. Habe ich etwas verpasst in den letzten Jahren? Auf jeden Fall! Ich denke, absolut! Wir alle verpassen doch ständig etwas, denn wir können nicht alles haben und schon gar nicht alles auf einmal. Wir werden Dinge verpassen, viele Dinge sogar. Denn wenn wir zu einer Sache „Ja“ sagen, sagen wir damit zu Tausend anderen Dingen „Nein“. So sieht’s doch in Wirklichkeit aus, oder? Und trotzdem ist da wieder so ein dumpfes Gefühl. Aber warum? Was erwarten wir vom Leben? Was erwarte ich?
Vielleicht ist es hier auch wichtig, weder auf der einen noch auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen. Immer wieder in sich hineinzuhorchen und sich zu fragen: „Was will ich wirklich im Leben? Was wollte ich schon immer einmal ausprobieren und was möchte ich eigentlich unbedingt noch machen?“ ist meiner Meinung nach wichtig, um auf Kurs zu bleiben oder seine Richtung eben ein klein wenig anzupassen, um das Leben zu leben, das einem entspricht und die Gaben aus sich herauszulassen, die in jedem von uns stecken. Aber andererseits sollten wir uns auch nicht ständig den Puls fühlen und permanent alles hinterfragen, denn wir müssen uns auch nicht alle fünf Jahre neu erfinden. Diesen Druck müssen wir uns nicht machen. Wir dürfen das Leben, das uns gegeben ist, auch so annehmen, wie es ist, und versuchen, etwas Gutes daraus zu machen, und dann einfach darauf vertrauen, dass wir zwar nicht alles richtig machen werden und bei weitem nicht alles perfekt sein wird, aber dass es echt sein wird, wenn wir das zulassen.
Meinem eigenen Ich würde ich also so etwas raten wie: „Wenn es etwas gibt, das du unbedingt noch machen willst in diesem Leben (gerade beruflich ist das ja für viele ein Thema, wie auch für mich), dann mach das. Aber glaube nicht, dich alle paar Jahre neu erfinden zu müssen.“
Und überhaupt: Was ist denn schon gut und schlecht in unserem Leben und was ist wirklich hilfreich und was nicht? Können wir das denn überhaupt immer so zuverlässig bewerten?
Am Ende wird unser Leben nicht immer super gewesen sein, aber es wird ganz individuell gewesen sein. Mein Leben wird nicht das perfekte Leben gewesen sein, aber es wird mein Leben gewesen sein. Mein eigenes, individuelles Leben.
Versöhnt leben mit sich selbst - diesen Schritt müssen wir, glaube ich, immer wieder tun.
Also: Nimm deine Vergangenheit an, so wie sie war, und wer weiß, vielleicht werdet ihr ja sogar noch gute Freunde ;) Alles, was uns bleibt, liegt hier und jetzt und da vorne. Blick in Richtung "Weiter geht's".
Ach, ich könnte noch lange weiterschreiben …
Aber vielleicht sind die Dinge auch gar nicht so dramatisch, wie sie gerade auf mich wirken. Vielleicht ist es viel mehr der Regen, der so eine trübe, melancholische Stimmung in mir auslöst … und vielleicht ist es einfach auch in Ordnung, wenn es mal stundenlang regnet … Es muss ja auch nicht immer die Sonne scheinen …
Vielleicht bin ich heute zu pessimistisch. Vielleicht aber auch einfach zu realistisch. Oder gar zu optimistisch?!
Das Urteil überlasse ich dir.