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Nirgendwo und überall
Ich renne wieder einmal meinen Spaziergang entlang, einen großen Spaziergang. Ich bin weit gelaufen. Und jedes Mal, wenn ich denke, ich drehe um, gehe ich doch noch ein Stück weiter. Ich will Gott noch eine Chance geben. Und noch eine. „Gott, wo bist du?“, denke ich.
Im letzten halben Jahr bin ich unruhig geworden. Ich meine nicht nervös. Sondern unruhig tief in mir drin. Mein Leben ist aus dem Gleichgewicht geraten. Auslöser für diese Krise war unter anderem meine Arbeitslosigkeit, deren Effekt durch die zeitgleiche Corona-Pandemie noch verstärkt wurde.
Auf den ersten Blick wirkt meine Situation für manche vielleicht gar nicht so schlecht. Viel Zeit zu haben und tun und lassen zu können, was man will, wer will das nicht? Ja, stimmt.
Bloß dass ich diese Situation schon ziemlich bald als seeeehr herausfordernd empfunden habe. Denn wenn man plötzlich keine Struktur mehr in seinem Alltag hat und eigentlich nichts mehr zu tun hat, dann muss man sich selbst Programm schaffen. „Ist doch nicht so schwer“, denken viele bestimmt. Dachte ich auch. Aber es
ist
schwer. Ganz einfach deshalb, weil es mich enorm unter Druck gesetzt hat. Plötzlich hatte ich so viele Freiheiten: Abgesehen vom Bewerbungenschreiben und sich mit der Crème de la Crème der deutschen Bürokratie herumzuschlagen, bleibt noch viel Zeit übrig für Dinge wie Kuchen backen, Fenster putzen, Bücher lesen, die nächste Podcastfolge hören, kochen, joggen, singen, mich um die Wäsche kümmern, alte Bedienungsanleitungen aussortieren, ein Workout machen, einem Hörbuch lauschen, meine Gedanken in einem meiner Hunderttausend kleinen Heftlein aufschreiben, spazieren gehen, beten, meditieren, Filme anschauen, Blogbeiträge schreiben und so weiter und so fort. Vieles davon hab ich tatsächlich getan, immer wieder. Aber genau diese große Auswahl an Möglichkeiten und dem gleichzeitigen Gefühl, nichts Gescheites getan zu haben, hat mich ganz rastlos gemacht. Ich fühle mich oft gejagt von mir selbst: „Jetzt überleg dir gut, was du heute erledigen willst. Mach dir einen Plan. Nimm dir was vor. Sei diszipliniert. Nutze den Tag. Leg los. Auf geht’s, mach was! Nicht trödeln. Machen! Weiter geht’s. Hopp hopp. Gestalte dein Leben selbst. Aber jetzt mach doch mal was, fang an!“ Von solchen Gedanken lasse ich mich oft durch die ganze Wohnung jagen. Aber genau dieser Druck sorgte oft dafür, dass ich am Ende gar nicht so viel tat von all dem, was ich tun könnte. Weil mir so schwindelig wurde von meinen eigenen Erwartungen und Gedanken, wusste ich am Ende oft gar nicht mehr, was ich denn nun tun soll, geschweige denn, was ich als erstes und was als nächstes tun soll, was ich eigentlich will oder wohin es mit mir eigentlich geht … Druck von allen Seiten, allen voran von mir selbst. „Ich
muss schließlich wissen, was morgen kommt, ich kann doch nicht einfach hier herumhocken und gar keinen Plan haben.“ Aber je mehr Freiheit ich hatte, desto weniger war mir klar und je mehr Druck ich mir machte, desto weniger ging mehr. Und so fand ich mich schnell in einem nicht endenden Kreislauf, in dem ich mich selbst jagte und gleichzeitig vor mir selbst davonlief. Ich drehte mich nur noch um mich selbst und merkte das gar nicht, bis ich vor lauter Schwindel nicht mehr aufrecht stehen und vor lauter Tränen nicht mehr klar sehen konnte, bis ich völlig außer Atem war und nur noch „Stopp!“ schreien wollte.
In solchen Situationen kommen wir an einen Punkt, an dem wir uns die tiefsten, innigsten Fragen stellen: Was bleibt, wenn nichts mehr bleibt? Was trägt, wenn nichts mehr trägt? Wer bin ich, wenn ich gerade eigentlich niemand mehr bin oder zumindest nicht mehr die, die ich bisher war?
Hier geht es um Identität. Hier geht es um mehr als um die Frage, was ich beruflich als nächstes mache. Hier geht es um die Frage „Wer bin ich?“
Ganz wesentlicher Bestandteil dieser Krise war und ist für mich auch das Suchen nach Gott. Von Beginn an hab ich ihn gesucht, gehofft, dass er sich mir irgendwie zeigt, mir wieder begegnet und ich meine Situation dadurch besser ertragen könnte. Ich hab so oft zu ihm gebetet. Ihn angeklagt, das natürlich auch. Aber auch immer wieder gebeten, zu mir zu kommen und zu mir zu sprechen. Aber Gott schwieg. Und je mehr er schwieg, desto unruhiger wurde ich und desto mehr versuchte ich, ihn zu greifen -und verrannte mich dabei knallhart. Denn Gottes Wirken kann man nicht heraufbeschwören. Vor allem nicht durch die Mittel, die ich mir habe einfallen lassen, die aber im Wesentlichen auch nur der üblichen Praxis von gläubigen Christen entsprechen: Gebet, Stille, Meditation, Spaziergänge, Lobpreislieder, Bibellesen … nicht Ungewöhnliches. An diesen Dingen ist überhaupt nichts Schlechtes, im Gegenteil. Die sind gut! Nur wenn man glaubt, man könnte Gott damit herbeizaubern wie den Gini aus der Wunderlampe, dann hat man sich geschnitten. Gott kann uns darin begegnen, aber er kann sich uns eben auch vollständig entziehen. Kann man machen, wenn man allmächtig ist. Und ich weiß, dass es Gott nicht darum geht, seine Macht auszuspielen. Dafür kenne ich ihn zu gut. Er liebt es, wenn wir zu ihm kommen und er begegnet uns gern. Aber vielleicht nicht dann, wenn er möchte, dass wir gerade etwas Wichtiges in diesem Zusammenhang begreifen:
Für mich sind all diese Dinge an einem Punkt scheinbar zu einer Art Mittel zum Zweck geworden. Nicht absichtlich natürlich. Ich bin in meiner Not vielmehr da hineingerutscht. Aber ich glaube, Gott will mich wieder dort herausholen. Ich habe vor lauter Unruhe oft gar nicht mehr gewusst, was ich noch sagen soll im Gebet, habe es oft irgendwo schnell dazwischen geschoben, nur damit ich mir sagen kann, ich habe es gemacht. Hier und da noch schnell eine Runde Ruhe im Gebet auf dem Sofa, nur, dass ich nicht ruhig war. Weil ich es nicht ertragen hab, still zu sein. Zuzuhören. Und einfach da zu sein. Ja, einfach nur zu sein. Dann dachte ich, ich gehe regelmäßiger spazieren. Das tut immer gut und macht sich auch gut. Man kann dann stolz erzählen, dass man heute ausreichend Bewegung hatte und dass das ja so meditativ sei und ach wie herrlich die Natur und so ... Aber dass ich auf meinen Spaziergängen – die ich meist extra groß begangen habe, damit ich mir selbst sagen kann, ich sei ja heute eine große Runde gelaufen und Gott hätte mir zehnmal in dieser Zeit begegnen können – meist nur „gerannt“ bin und dass das manchmal alles andere als entspannend und bereichernd war, das habe ich ausgeblendet. Ich habe all diese Dinge, durch die ich gehofft hatte, Gott könnte mir begegnen, offensichtlich nur noch wie ein To Do betrachtet, das ich dann glücklich und zufrieden am Ende meines Tages abhaken konnte, wo ich doch sonst schon nichts erreicht hatte, weil ich ja eigentlich nichts zu tun hatte. Ich habe Gott wie ein To Do betrachtet. Ich habe mich total verlaufen vor lauter Sorge, nichts mehr zu haben, was mich erfüllt und hält und ausmacht. Vor lauter „Du musst dein Leben gestalten. Mach Pläne. Du musst dich doch bemühen. Du musst doch wissen, was morgen, nächste Woche und nächsten Monat kommt“ und der zeitgleichen Erfahrung von „Alle Türen sind zu. Ich weiß nicht, wohin. Ich kann doch nicht einfach nur da sein, ich muss doch etwas tun. Was ist meine Aufgabe? Ich strampele und es tut sich nichts. Ich sitze in einem Wartezimmer, das gar keinen Ausgang hat“ hab ich mich sooooo verirrt, dass ich Gott in diesen Strudel mit hineingezogen habe. Und dabei ganz vergessen habe, dass er doch über allem steht. Mit mir da drin und dabei, aber dass er doch die Kontrolle hat.
Ich bin weit gelaufen auf diesem Spaziergang. „Gott, wo bist du?“, denke ich.
In dem Moment flüstert es leise in meinem Herzen zu mir: „Warum rennst du eigentlich so? Wovor läufst du weg? Vor dir selbst? Wo willst du denn hin? Willst du zu mir? Ich bin doch schon da. Hör auf, davonzulaufen. Stelle dich der Leere in dir drin. Stelle dich all dem, was du nicht bist. Du bist ja ganz außer Atem. Wann bleibst du endlich einmal stehen und hältst still? Wann hörst du auf, krampfhaft zu versuchen, dein Leben unter Kontrolle zu kriegen und dabei doch nichts zu gewinnen? Bleib stehen und komm zur Ruhe. Hör auf, mich da draußen zu suchen. Ich bin nicht da draußen, ich bin da. Ich hab dich nie allein gelassen. Ich war immer da. Aber wo warst du?
Du
warst nicht da. Weil du so beschäftigt damit warst, dich selbst über Wasser zu halten anstatt dich auf mich fallen zu lassen; überall herumzurennen und Pläne zu schmieden anstatt abzuwarten und mir zu vertrauen; laut zu sein anstatt die Stille in dir zu ertragen; wie angebrannt in der Wohnung herumzurasen; Gebete wie auf Knopfdruck abzuliefern ohne wirklich an einem ehrlichen Austausch mit mir interessiert zu sein, sondern nur deine eigenen Antworten hören zu wollen; zu meinen, ein heiliges Gefühl meiner Gegenwart durch zwei schnelle Worshipsongs herstellen zu können und mich mit deinen extra ausgiebigen Spaziergängen unter Druck setzen zu können. Hör auf, mich wie ein weiteres To Do zu betrachten. Du musst gar nichts, du darfst einfach sein. Bleib stehen. Halte still. Lass los und sei einfach da. Denn wenn nichts mehr bleibt, bleibe ich. Wenn nichts mehr trägt, trage ich. Ich bin nicht irgendwo. Ich bin da.“
Wow. Okay … Diese Worte kamen so völlig ohne Vorwurf.
Den Rückweg gehe ich ganz langsam. Ruhiger. Demütiger. Was hab ich mir dabei gedacht? Zu glauben, ich sei nur jemand, wenn ich etwas tue. Ich meine, wir Menschen, besonders in Deutschland, legen sehr großen Wert auf solche Dinge wie Arbeit, Leistung, Liefern, Machen und Tun. Aber ich glaube, wir verirren uns da. Wir sind nicht das, was wir tun. Wir sind. Es geht nicht ums Tun. Es geht ums Sein. Wer wir denn nun sind, muss jeder für sich selbst beantworten, aber für mich steht fest: Ich bin vieles nicht, aber durch den, der sich selbst „Ich bin“ nennt, bin auch ich. Zumindest sein.
Auch die Sache mit dem ehrlichen Austausch hat gesessen. Wenige Tage zuvor erst hatte ich nämlich darüber nachgedacht, wie sehr ich es liebe, mit anderen Menschen im Dialog zu stehen und zu hören, was sie denken. Dass ich es aber nicht so mag, wenn Menschen mir unehrliche Fragen stellen. Unehrliche Fragen sind Fragen, die jemand anderes so beantworten soll, wie wir selbst das gerne hätten. Ich ertappe mich auch hin und wieder dabei, ketzerische Fragen zu stellen, auf die ich doch am liebsten nur meine eigenen Antworten dulden würde. Ich glaube aber viel mehr: Wenn wir lernen und uns trauen, ehrliche Fragen zu stellen, dann werden wir auch echte Antworten finden. Gott mag es wohl auch besonders, wenn wir ihm ganz ehrliche Fragen stellen. Dann hat er die Möglichkeit, uns darin zu begegnen. Dazu müssen wir aber bereit sein, das hören zu wollen, was er uns antworten will. Denn Gott drängt sich uns nicht auf. Doch seine Antworten sind erfahrungsgemäß weitaus liebevoller, befreiender, großzügiger und beflügelnder als alle Antworten, die ich mir jemals selbst gegeben habe. Es sind weite, friedliche Antworten.
Für mich bleibt es ein großes Übungsfeld, in dem ich mich gerade befinde. Aber ich möchte mich immer an den wenden, der mir immer wieder alles abnimmt, was ich mir selbst aufgebürdet habe.
Vielleicht lässt Gott mich gerade dort sitzen, wo ich sitze, bis ich bereit dazu bin, weiterzugehen. Vielleicht ist das eine Lektion, die ich lernen soll. Denn wenn ich kapituliere und bereit dazu bin, in den Schmerz hineinzugehen, kann mir Gott dort ganz neu begegnen, weil ich dann endlich wieder zuhöre. Dann kann er mir aufhelfen und mir sagen:
„Ich bin da. Du auch?“