Lebst du noch?

Phil
9. Dezember 2020

Lebst du noch?

Nein, wir sind hier nicht im Möbelhaus, nicht in einem schwedischen und auch in keinem anderen. Und trotzdem: Lebst du noch? Du, ja du! Der du seit Monaten in einer von Corona geplagten Welt lebst, voller Einschränkungen, Unsicherheiten, voll Verzicht, Angst und Sorgen, Schwierigkeiten, zerplatzten Realitäten, offenen Träumen, ungewissen Vorhaben, Misstrauen, Wut und Verzweiflung und all den unausgesprochenen Gefühlen, die eine Pandemie mit sich bringt: Lebst du noch? Oder existierst du nur noch? Eine zynische, aber dennoch berechtigte Frage in dieser Zeit.


Ich schreibe diese Zeilen mitten aus einem trüben Sonntagabend in meinem Corona-Leben, zwischen Lockdown No. 2 und Quarantäne. Es sind müde Gedanken, die von einer tiefen, schweren Traurigkeit begleitet werden. Ein Gefühl überwiegt heute Abend: Ich kann nicht mehr. So viele Monate schon habe ich ausgeharrt. Wie wir alle. Abgewartet und ausgehalten und wieder abgewartet und wieder ausgehalten. Noch ein bisschen länger und noch länger, und dann noch ein bisschen mehr und noch ein bisschen länger. Ich komme mir vor wie beim Zahnarzt, wo einem nur kurz eine schmerzende Stelle ohne Betäubung repariert wird: Es tut weh und man sagt sich: „Nur ganz kurz noch aushalten, dann ist es vorbei.“ Und wenn es erst einmal vorbei ist, ah, wie schön ist dieses Gefühl, wenn der Druck verschwindet und der Schmerz nachlässt. Dann ist es geschafft. Auf diesen Moment warte ich bei Corona schon seit Monaten. Ich komme mir vor wie in einer nicht enden wollenden Behandlung, die „kurz“ weh tut, aber gleich wieder vorbei sein wird. Nur noch kurz aushalten. Kurz. Aber Corona ist nicht kurz. Corona geht schon so lange. Ich will, dass Corona jetzt schnell zu Ende geht, doch mein Kopf weiß, dass das nicht so schnell passieren wird, und genau das ist das Anstrengende. Ich glaube, was uns an Corona so anstrengt, ist die Tatsache, dass wir nicht wirklich aktiv viel tun können, um diese Pandemie zu überwinden. Wir müssen viel mehr Aushalten als Tun. Stillhalten anstatt anzupacken. Abwarten anstatt zu kämpfen. Abstand halten anstatt zusammenzuhalten. Mann, das liegt uns gar nicht! Ich glaube, es ist viel einfacher für uns, in Schwierigkeiten offensiv nach vorne in die Schlacht zu ziehen anstatt zu versuchen, ruhig zu Hause zu sitzen und zu warten, bis es vorbei ist. Warten! Wer tut das schon gerne? Kriegen wir nicht alle innerlich schon die Krise, wenn es beim Arzt heißt „Sie dürfen sich noch eine Weile ins Wartezimmer setzen“? Oder wenn wir auf einem dieser wundertollen Ämter eine Nummer ziehen müssen und es heißt „Bitte warten Sie, bis Sie aufgerufen werden“? Wer wartet denn schon gerne? Warten ist furchtbar anstrengend, weil wir beim Warten stillhalten müssen. Wie bei Corona.


Heute Abend ging mir dann diese Frage durch den Kopf. Lebst du noch? Leben wir noch? Und wenn ja, wie? Was bedeutet eigentlich Leben? Gute Frage. Leben wir nicht schon seit Monaten ein Leben, das – berechtigterweise (Ausrufezeichen, aber auch Fragezeichen) – viel mehr auf Existieren abzielt als auf Leben? Ist irgendwann vielleicht der Punkt erreicht, an dem wir sagen müssen: „Stopp! Hier lebt doch niemand mehr! Wir sind doch nur noch kleine Menschlein, die vor sich hin existieren!“


Jaja, ich weiß, wir jammern in Deutschland auf hohem Niveau. Das ist richtig. Aber wir jammern trotzdem und ich finde, das ist hin und wieder auch völlig in Ordnung! Ich finde nämlich, wir sollten uns zugestehen, auch mal rumzujammern, zu weinen, verärgert zu sein, uns gestresst zu fühlen, überfordert zu sein oder sonst auf irgendeine Weise so zu empfinden, wie wir uns oft nicht haben wollen; das zu zeigen, was wir nicht zeigen wollen aus Angst, unser Gesicht zu verlieren; schwach zu sein in dem Wissen, dass wir nicht immer die starken Helden spielen müssen. Und das Ganze: UNABHÄNGIG VON UNSEREN UMSTÄNDEN! Ich finde es nämlich meistens nicht hilfreich, wenn einem ständig eingeredet wird, man hätte ja keine Berechtigung so oder so zu denken oder zu fühlen, weil man ja in Deutschland lebt und deshalb immer glücklich sein muss. So etwas kann eventuell mal hilfreich sein, wenn es darum geht, sich damit selbst einen Tritt in den Hintern zu verpassen und sich zuzureden: „Stell dich nicht so an! Streng dich an! Reiß dich mal zusammen!“ Aber nicht immer. Vor allem ist es meistens dann nicht hilfreich, wenn man es von außen aufgebrummt bekommt. Ich habe nämlich bemerkt, dass wir uns damit alle gegenseitig enorm schwächen können, nicht nur in Bezug auf Corona, sondern auch in ganz vielen anderen Lebenssituationen. Ich habe in letzter Zeit ein bisschen darüber nachgedacht und dabei ist mir das so aufgefallen. Ich bin beispielsweise ein Mensch, der sich relativ schnell gestresst fühlt. Oft will ich mir das aber nicht zugestehen, weil ich denke, ich sei ein Versager, wenn ich jetzt sage, dass ich gestresst bin. Dann habe ich Gedanken im Kopf wie „Gestresst? Du? Wovon bist du denn bitteschön gestresst? Du hast ja noch nicht einmal eine Familie!“ Sowas denken bestimmt Eltern über Menschen wie mich: Kinderlose, die sich „gestresst“ fühlen. Eltern eines Kleinkindes fühlen sich bestimmt auch manchmal gestresst, müssen sich dann aber von Eltern mit zwei Kindern bestimmt hin und wieder anhören: „Gestresst? Du? Wovon bist du denn bitteschön gestresst? Du hast ja gerade mal ein Kind! Ein Kind ist kein Kind, das bisschen Arbeit macht sich ja quasi von allein!“ Für eine Mutter von fünf Kindern erscheint es aber sicherlich genauso lächerlich, dass sich die zweifache Mutter gestresst fühlt. Ein Zweipersonen-Haushalt denkt so bestimmt das ein oder andere Mal über Singles. Und so weiter und so fort. Das Problem an der Sache ist, dass wir ewig so weitermachen könnten, wenn wir einmal damit angefangen haben. Ein Quäntchen Wahrheit ist bestimmt an jedem dieser Vorwürfe dran, wie häufig. Trotzdem müssen wir damit aufhören! Jede und jeder von uns hat seine Daseinsberechtigung in dieser Welt und damit einher geht die Berechtigung für alle Gefühlsfacetten, die das Leben so mit sich bringt. Keiner von uns muss immer glücklich und zufrieden sein, stark sein, und immer super gut mit jeder Lebenssituation klarkommen. Wir dürfen auch schwach sein, traurig sein, uns gestresst fühlen, genervt sein, schlechte Laune und keine Lust haben, wütend und verzweifelt sein. Auch in Deutschland! Natürlich geht es uns objektiv gesehen hier in Deutschland echt gut im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Aber das Leben findet nun mal subjektiv statt. Und da darf es uns auch mal richtig kacke gehen. Das ist okay! Völlig normal! Wir sollten das zulassen anstatt uns immer gegenseitig vorschreiben zu wollen, wie man das Leben besser zu leben hat. Es ist viel schöner, wenn wir uns stattdessen ermutigen! Aber dazu müssen wir erst einmal das aufkommen lassen, was da ist, das da sein lassen, was aus uns herauskommt, und dann können wir damit umgehen. Alle miteinander. Ich glaube während der Corona-Zeit spielt diese Haltung eine noch viel größere Rolle als bisher: Gnädig miteinander zu sein anstatt belehrend. 


(De facto bin ich mit diesem Text auch ziemlich belehrend, sorry, aber irgendwie muss man seine Meinung hierzu ja zum Ausdruck bringen ...)


Tja, und so bin ich zur Zeit dabei, alle hässlichen Gefühle da sein zu lassen, sie auf den Tisch zu legen und mit ihnen umzugehen. Sie aus mir herauszulassen fällt mir inzwischen leichter. Mit ihnen umzugehen fällt mir in dieser Krise zunehmend schwer. Richtig schwer. Was mich dann noch über Wasser hält, ist die Hoffnung, dass die Lage sich irgendwann einmal wieder bessern wird. Dass Corona vorbeigehen wird. Dass wieder andere Zeiten kommen werden, in denen das Leben leicht sein wird. Und so hoffe ich und warte (waaaahhh) auf bessere Zeiten …



Wie sieht das bei dir aus? Geht es dir ähnlich wie mir, dass du momentan das Gefühl hast, in manchen Bereichen gar nicht mehr richtig zu leben? Wie gehst du damit um? Woher nimmst du die Kraft, auszuhalten?



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