Feiern wir unsere Prozesse!

Phil
11. Juli 2023

Warum ich aufgehört habe, fertig zu sein, und wieso wir weniger Lösungen brauchen

Bestimmt ist dir schon mal dieser oder so ein ähnlicher Satz begegnet: „Wann bist du denn fertig mit deinem Studium? Wann ist das Projekt beendet? Wann ist diese Phase endlich vorbei?“ Fertig zu sein mit etwas gefällt uns, glaube ich, ziemlich gut. Und ja, es ist einfach auch ein schönes Gefühl, etwas abhaken zu können. Es ist schön, dass Dinge enden, und Neues beginnt. Aber fertig sein zu wollen birgt auch immer die Gefahr, das Leben eben nicht mehr wirklich zu leben, sondern nur noch abzuarbeiten, abzuhaken, und zu schauen, dass alles gut funktioniert. ……

Doch eigentlich will ich gar nicht fertig sein mit Was-auch-immer. Ich will mein Leben wirklich leben. Denn die Abschlüsse, die sich dabei gelegentlich ergeben, und die nächsten Stufen, die wir erreichen, die passieren ja sowieso von allein, indem wir einfach immer weiter gehen und die zugehörigen Prozesse durchlaufen. Ich will nicht auf ein Ziel hinrennen, sondern stattdessen den Weg genießen so gut es geht und dabei links und rechts des Weges all die schönen Dinge entdecken, die ich übersehen würde, wenn mein Blick so krampfhaft auf das fokussiert wäre, was ich mir am Ziel erhoffe. Wenn du gerade einen Erfolg gefeiert oder einen wichtigen Meilenstein erreicht hast, dann ist das natürlich toll. Aber lassen wir uns davon nicht täuschen: Es geht letztlich doch nicht nur um solche Äußerlichkeiten wie Titel, Positionen, Begriffe, mit denen wir uns (ver)kleiden. Viel mehr geht es um das, was sich dahinter verbirgt, um das, was übrig bleibt, wenn wir uns „nackig machen“. Den Weg, den wir gehen, würden wir zwar vermutlich nicht ohne Ziel gehen, deshalb ist ein gewisser Fokus oder eine Hoffnung auf das Ziel schon berechtigt und wohl auch grundgebend dafür, dass wir auf diesem oder jenem Weg überhaupt unterwegs sind. Nein, der Weg ist also gewiss nicht das Ziel. Doch der Weg ist der Ort, an dem ich mich und wir alle uns meistens befinden. Oft sind wir viel zu verbissen auf ein Ziel eingestellt, und es ist uns fast egal, wie wir es dorthin schaffen. Und wir vergessen dabei schnell: Die Dinge, die wir an Ergebnissen so sehr feiern, sind im Prozess passiert!


Manchmal denke ich auch, wir denken viel zu lösungsorientiert. Lösungen sind schön und gut – wirklich – aber ich glaube, dass es, zumindest im zwischenmenschlichen Bereich, nicht immer um eine Lösung geht. Wenn wir uns gegenseitig von unseren Problemen erzählen, brauchen wir gar nicht immer einen Lösungsvorschlag, sondern Verständnis. Wir wünschen uns von unserem Gegenüber die Bereitschaft, die Last eines schweren Lebens für einen Moment mitzutragen. Ja, ich denke wirklich, dass viele Leute eigentlich keine Hilfe wollen, weil sie gar nicht bereit dazu sind, sich helfen zu lassen, und helfen kann man ja bekanntlich nur dem, der sich helfen lässt. Wie selbstverständlich gehen wir allerdings oft davon aus, der andere wolle Hilfe und wir müssten die Helfer sein. Irrtum. Und vielleicht gibt es da auch noch einen Unterschied zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir brauchen. Das muss nicht deckungsgleich sein. Damit meine ich: Ja, vielleicht wollen wir manchmal schon eine Lösung, eine schnelle noch dazu. Aber brauchen tun wir vielleicht etwas ganz anderes, z.B. Verständnis für unsere Situation, Ermutigung oder einfach, dass jemand bei uns ist. Mir hilft diese Perspektive manchmal im Umgang mit anderen, weil ich mich daran erinnere, dass ich nicht zwingend für eine Lösung verantwortlich bin und auch nicht unbedingt darin vorkomme. Dass ich aber immer entscheiden kann, ob ich dem anderen ein offenes Ohr und ein bisschen Verständnis schenken will, sofern es meine Situation zulässt. Ich erinnere mich dann oft: „Ok, ich kann dir keine Lösung liefern und muss das vielleicht auch nicht, aber ich kann versuchen wahrzunehmen, in welchem Prozess du gerade steckst und dass das offensichtlich nicht immer so leicht ist.“ Ich glaube, dass solche Momente total wertvoll sein können, weil sie Verbundenheit schaffen und weil wir dann nicht nur aneinander vorbei leben, sondern wirklich miteinander leben. Das lenkt unseren Blick immer wieder weg von Lösungen, Produkten, Ergebnissen oder Leistung hin zum Menschen, dessen Seele vielleicht nie darauf ausgelegt war, bloß zu funktionieren, Ergebnisse zu präsentieren oder mit dem Tempo des 21. Jahrhunderts Schritt zu halten.


Lasst uns also unsere Prozesse noch mehr feiern als unsere Ergebnisse! Lasst uns Mitgefühl mehr im Blick haben als Lösungen. Für mich ist es wichtig geworden, prozessorientiert statt ergebnisorientiert zu denken. Und vielleicht ist ja der Weg genau der Prozess, der uns irgendwann ganz unverhofft ankommen lässt. Ehe wir weiterziehen …


Ich jedenfalls habe aufgehört, fertig zu sein, und angefangen, lebendig zu bleiben. 




Bildquelle: cottonbro studio


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