Ein pessimistischer Blick auf das digitalisierte Leben.
Ich glaube ja, dass das Internet unsere Welt so sehr verändert hat wie kaum etwas zuvor. Das digitale Leben ist ein inflationäres Leben. Wir haben nicht nur Zugriff zu vielem, wir haben Zugriff zu allem. Wir können nicht nur vieles machen, wir können alles machen. Nicht mehr in Maßen, sondern in Massen lebt sich dieses Leben.
An manchen Tagen erinnere ich mich an die Zeit meiner Kindheit und es überkommt mich eine Wehmut. Das geht bekanntlich vielen Menschen so. Mit unserer Kindheit verbinden wir oft unglaublich schöne, prägende Erlebnisse und wir neigen dazu, sie zu romantisieren. Nicht alles war super in meiner Kindheit, aber vieles schon. Eine Sache jedenfalls, die sich seither in meinem Leben gewaltig geändert hat, ist der Medienkonsum. Wie bei uns allen vermutlich. Ich erinnere mich an die Zeiten, in denen man zu Hause lediglich Fernseher, Telefon und Radio hatte. Ferngesehen wurde bei uns ziemlich gezielt, meist mit ausgewählten VHS-Kassetten, die man sich zuvor in der Stadt aus der Bibliothek oder Videothek geliehen hatte, maximal drei durfte man für ein paar Tage mit nach Hause nehmen. Wenn das Telefon klingelte, konnte man nicht sehen, wer anruft, bevor man den Anruf entgegennahm. Ich erinnere mich, dass man manchmal zu spät zum Telefon geeilt war und den Anruf dann verpasste. Kommentiert wurde das von meinen Eltern immer ganz entspannt mit: „Naja, wenn’s wichtig war, ruft derjenige wieder an.“ Was blieb einem auch anderes übrig? Wenn wir gerade zu Mittag aßen, haben meine Eltern das klingelnde Telefon manchmal extra nicht abgenommen. Das hat man sich rausgenommen. Und das Radio lief bei uns zu Hause sowieso ganz selten. Eigentlich nie. Wenn dann haben wir Kinder unsere Kassetten angehört, später CDs.
Und das war’s. Medienkonsum a là 1990-2005. Wie herrlich simpel.
Dann kam alles anders.
Plötzlich wurde der Computer wichtig, Texte wurden in Word abgetippt und mit fancy WordArt-Effekten bearbeitet. E-Mail-Konten wurden angelegt. Chat-Rooms schossen wie Pilze aus dem Boden, unseren ersten Video-Call mit Headphones und Kamera werde ich nie vergessen! Wahnsinn! Telefonieren mit Bild, wir waren begeistert! Damals noch lange nicht etabliert zur alltäglichen Nutzung wie einige Jahre später, aber Ausprobieren wollten wir es mal, einfach so, zum Spaß. Dass rund 15 Jahre später sogar Schule und Uni so ablaufen würden, hätte man sich damals nicht vorstellen können.
Und dann ging alles ganz schnell und noch schneller … wenige Jahre später kam das erste Smartphone auf den Markt, eine Revolution ihresgleichen. Heute bestimmen Smartphones unseren Alltag so intensiv wie nichts anderes mehr. Über Generationen hinweg.
Wir sind nicht besser erreichbar, wir sind gar nicht mehr unverfügbar. Wer anruft, verrät uns die Nummer auf dem Display, unbekannte oder anonyme Anrufer lässt man gelegentlich abblitzen, weil man sich wundert, wer da anruft, verpasste Anrufe werden erwartungsgemäß zurückgerufen. Musik hören wir nicht mehr übers Radio, sondern immer und überall über unsere stylischen Bluetooth-Boxen, die die Songs unserer etlichen Playlists ausgeben. Filme werden nicht mehr ausgewählt, sondern angeklickt, was nicht gefällt, wird abgebrochen, schließlich stehen ja noch Hunderte anderer Filme im Streaming-Portal zur Verfügung. Von den E-Mail-Konten, die täglich gecheckt und beantwortet werden wollen, den vielen Apps, die unser Leben tracken und auswerten, uns warnen und loben, und den endlosen WhatsApp-Gruppen, die täglich unsere Aufmerksamkeit fordern, will ich an dieser Stelle gar nicht sprechen.
Verglichen mit heute wirkt das Leben von damals ganz schön idyllisch. Nein, früher war nicht alles besser, es war nur alles anders. Manches war besser, manches war schlechter. Aber es war in jedem Fall langsamer. Ein langsames Leben. Ein Leben, in dem eins nach dem anderen geschah. Nicht alles auf einmal. Nicht immer und überall und sofort. Eine Sache, die einen Wert hatte, folgte einer anderen Sache, die auch einen Wert hatte. Die Zeit dazu hat man sich nicht nur genommen, die musste man sich nehmen, es ging gar nicht anders.
Heute frage ich mich, wohin uns dieses Übermaß treibt ... Mir scheint, als würden wir zunehmend mit einer Leichtfertigkeit gegenüber den Dingen leben. Wenn wir eine Sache beginnen, planen wir schon die nächste und ehe wir mit der ersten Sache fertig sind, haben wir schon die zweite begonnen. Das ist das digitale Leben. Das ist das inflationäre Leben.
Sind wir dabei, ein Leben in Qualität auszutauschen in ein Leben in Quantität? Ein Leben in Eile statt mit Weile zu leben?
Ich wünsche mir oft wieder ein langsameres Leben. Ein Leben, das Raum lässt zum Dasein, Wahrnehmen, Staunen, Durchatmen, Weitergehen. Oder Stehenbleiben.